Auf den Spuren der Wahrheit

Tagebucheintrag vom
02.10.1914
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Kaiser
Tagebucheintrag von
Karl Schneller
Erklärung
2.10.1914

Früh erzählt mir Schneider eine lustige Geschichte (er hatte Inspektion), die, für unsere Herren charakteristisch ist. Gestern kam das Telegramm der Deutschen über ihre Nachrichten über den Feind und Marschziel; da ist erwähnt, dass es auch an die 1. Armee ginge. In der Nacht tauchten Besorgnisse auf, die erste Armee könnte dieses Telegramm nicht erhalten haben. Nun wird es nochmals chiffriert und abgegeben; dies übrigens erst nach der Erwägung, ob nicht jemand nachts nach Bejcse (Standort des 1. AK) fahren solle. – Noch eine amüsante Anekdote: Gestern entrüstete sich die Evidenzgruppe, weil Pokorny, der täglich ein Chiffretelegramm eines russischen Korps enträtseln muss, einmal nichts liefert! – Nachts kam ein Telegramm mit der deutschen Ansicht an. Obgleich dort bisher außer Nachrichten vom bevorstehenden Übergang des russischen XIV bei Sandomierz und vom Vorgehen der GK Brig. auf Opatów noch keinerlei Anzeichen eines Weichselüberganges weiterer Kräfte vorliegen, besteht die Auffassung, dass russischerseits eine große Offensive über Weichselstrecke Sandomierz. – Iwangorod zu gewärtigen sei. Bei Radom wegen starker Kavallerieschleier noch keine Klarheit. Die Deutschen wollen, „rasch zufassend“, Gegner am Übergang schlagen; dirigieren für heute 6 Divisionen in die Front Kurozwiki-Michalow (an Chaussee Konsk Ostrowice), 4 Divisionen vorerst mehr in Richtung Radom (Jagodno-Pryzucha). Marschieren, dass alles wettert. – Und bei uns? Es gehören doch auch starke Kräfte in den Raum nördlich der Weichsel! Teile der 1. Armee, vor allem aber die beiden rückwärtigen Korps der 4. Armee marschieren und fahren lassen!

            Bei uns herrscht über den Feind keine Klarheit. Vor allem weiß man nicht, wo seine Front ist! Und das müsste man wissen. Schuld ist nur unser Skizzenzeichnungs-System, das es mit sich bringt, dass gewisse Sachen nach einigen Tagen verschwinden. Im Bericht an den Kaiser schneide ich diese Frage deutlich genug an; „südwestlich Lisko-Sanok starre Verschleierung, in Krosno und Pilzno, dann an der unteren Wisloka noch Feind. In Jaslo eigene Jäger kampflos eingerückt“. Auf Verschiebung gegen Norden für Offensive über Weichsel südlich Iwangorod wird deutlich hingewiesen. – Gegen Mittag spreche ich Kageneck, er fragt mich ganz konsterniert, was denn mit Auffenberg geschehen sei; er wäre doch einer unserer besten Generäle! Auch Schemua ist abgelöst; er kommandiert die Donaulinie; Kirchbach führt nun das II. Korps. – Kageneck bemerkt auch, dass die Offensive bald losgehen und von der 2. Armee beginnen sollte. Der Mann hat Recht; bei uns geht jetzt die 2. Armee zuletzt. So trifft sie vielleicht überhaupt keinen Feind (was schon wiederholt ihr Schicksal war!); dagegen könnten ihre Bataillone losgehen den Gegner stutzig machen und von weiterer Verschiebung gegen Norden abhalten. Jedenfalls heißt es jetzt, angesichts des schneidigen Vorgehens der Deutschen, „überall anpacken!“. –

            Abends endlich wieder einmal eine günstige Nachricht aus Frankreich: Die deutsche Umfassungsgruppe scheint endlich den französischen Westflügel überflügeln zu können. – Auch 5. Armee schreitet vorwärts.

            An die Armeen geht noch ein ergänzender Befehl, der in 2 Sachen gipfelt:

1)    soll die erste Armee bereit sein, mit Armee Südteile über die Weichsel anzugreifen (früher umgekehrt: in südlicher Richtung);

            2) wird bekannt gegeben, dass die „zurückgelassenen Gruppen“ des Gegners energisch anzugreifen und womöglich zu umfassen sein werden. Dieser Begriff „zurückgelassenen Gruppen“ stammt aus dem Tagesbericht; seit früher sind keinerlei Nachrichten eingetroffen, die von solchen Gruppen gesprochen hätten. –

            Schon wieder Inspektion. Es sind eben mehrere Herren ausgefallen: Szeptycki, Purtscher (in Wien) Zemanek (marod und mit Dechiffrieren sehr beschäftigt) Prich (sammelt die „Armeeberichte“). – Nachts sehe ich eine Hughesdepesche, die Fischer aufklebt: Oberst hat mit Waldstätten gesprochen und beginnt etwa: eine sehr ernste Frage in heiterer Form. Vor der Schlacht von Aspern sagte Erzherzog Karl zu Kaiser Franz, er will die Franzosen über die Donau lassen, um sie am Übergang zu schlagen; worauf der Kaiser meinte: Lass sie nur nicht zuviel hinüber! - Waldstätten sagt: Das gilt auch jetzt. Wir sind 15 Divisionen und wünschen uns nicht mehr als 10-12, haben aber keine Mittel, den Russen den Übergang zu verwehren. Oberst sagt, auch die 5. Russische Armee sei im Anmarsch gegen Sandomierz und fragt, ob man nicht die Brücke zerstören solle. Die Depeschen dürften aufgehoben sein. –

            Heute dazu noch einiges über die Art der Arbeit unseres Kommandos. Gedeihlich ist sie nicht. Die Leute, die die wichtigen Rollen spielen, bleiben täglich 12, 1 Uhr nachts und noch länger auf. Wie sollen sie da frische Köpfe haben? An der Evidenz arbeiten viel zu viele und doch ist nie etwas evident, weil die Meldungen den Evidenzlern aus der Hand gerissen werden und gewöhnlich erst viel später wiederkommen. Das viele Skizzieren ist direkt ein Unheil: aus den Skizzen spricht nur eine bestimmte Auffassung der Lage; lauter Fragezeichen, unbestimmte Pfeile, diverse Spielereien bei der feindlichen Situation; für ein Oberkommando viel zu viele Details bei der eigenen Lage. Dies über die russischen Gruppen nur sehr im Allgemeinen; die Details behalte ich wohl ohnedies für immer im Kopf.

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