Einleitung

Die patriotischen Massenmanifestationen des August 1914 sind bereits von zeitgenössischen Beobachtern als das Wirken eines Prinzips beschrieben worden, das ein kollektiv Unbewusstes zum manifesten Wir werden ließ. Die klassen- und schichtübergreifende Absonderung gegenüber dem feindlichen Außen schien die Harmonie nach Innen klaglos und widerspruchsfrei herzustellen. Eine Zeit, die das Nationale zum obersten Prinzip erhob, hatte in diesem Sinn auch die Massen nationalisiert und eröffnete Perspektive und Zukunftsgewissheit. Stefan Zweig. zufolge habe jeder Einzelne eine Steigerung seines Ichs erlebt, war „eingetan in eine Masse“, war „Volk“; für diesen einen Augenblick schienen alle Klassenunterschiede und kulturellen Differenzen unbedeutend und aufgehoben. Man war plötzlich „Teilchen“ geworden, schreibt Robert Musil, demütig aufgelöst in ein überpersönliches Geschehen, und spürte, von ihr eingeschlossen, „die Nation beinahe leibhaft.“ Etwas „Großartiges, Hinreißendes und sogar Verführerisches“ kennzeichnete diesen ersten Aufbruch der Massen. In seiner eigensinnigen, so überaus ambivalenten Attraktion aber habe der wilde, in Worten kaum zu schildernde „Rausch“ letztlich auch ein dunkles Anderes, unbewusste Triebe und Instinkte offenbart, Freuds Unbehagen an der Kultur

In solchen Analysen wird ein zentraler, wiewohl durchaus umstrittenen Topos der Erinnerungslast des Großen Krieges bedient: Die im August 1914 enthusiastisch demonstrierenden Massen hätten, in ihrer schieren Gewalt, die Eliten schlicht mit sich fort gerissen. Nun war die Kriegseuphorie in großen Teilen der Arbeiterschaft oder der ländlich-bäuerlichen Bevölkerung keineswegs ungeteilt, unter den Intellektuellen und Künstlern aber geradezu handlungsbestimmend. In ihrer überwiegenden Mehrheit sahen diese darin das notwendige und logische Gegen-Bild zu dem so dominanten Unbehagen an der Zeit, die seit langem erhoffte Verneinung alles Bestehenden. Die Aufklärung, so Oskar Kokoschka, „wandte sich zur Metaphysik, ohne dass „man dessen gewahr wurde.“ Eine „Revolution der Seele gegen die Ordnung“ erkannte Musil, einen archaischen Ausbruch aus dem ewigen Kreislauf des „Seinesgleichen“. 

Sinnkrise, Kultur- und Geschichtspessimismus korrespondierten tatsächlich mit einer eigentümlich gesteigerten Kriegssehnsucht, der Hoffnung auf soziale, kulturelle, nationale Erneuerung. „Purifikation“, „Katharsis“ sollte das große Geschehen bewirken, die Rückführung aller Verhältnisse auf das „einfach Bedeutungsvolle“, die schmerzvolle Reinigung alles Abgelebten, Alten, Morschen vermittels „natürlicher“ Auslese der Tauglichsten und Besten. Als der Große Krieg dann ausbrach, setzte er ungeheure emotionale Energien, Euphorie, Aufbruchspathos frei, wurde er von den geistigen Eliten ausnahmslos aller kriegführenden Seiten mit geradezu metaphysisch aufgeladenen Erwartungen und Sehnsüchten überfrachtet. Erst die namenlosen Gräuel des modernen Massenkrieges, das entgrenzte Hinschlachten von ungezähltem „Menschenmaterial“ im anonymen Maschinenkampf ließ eine zunächst zögerliche, mit Fortdauer der letalen Auseinandersetzung aber umso radikalere Meinungs- und Haltungsänderung Platz greifen.

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