Irredenta in Tirol

Am 25. März 1915, einen Monat vor dem Londoner Abkommen, der den Kriegseintritt Italiens auf Seiten der Alliierten besiegeln sollte und zwei Monate vor der italienischen Kriegserklärung an Österreich-Ungarn, analysierte der österreichisch-ungarische Konsul in Neapel Egon Edler von Pflügl in einer an Botschafter Kajetan Mérey gerichteten Denkschrift die auch in der Presse heftig diskutierten Verhandlungen zwischen Rom und Wien, inwieweit Italien durch Gebietsabtretungen der Doppelmonarchie – hier besonders im Raum Tirol – dazu zu gewinnen sei, seine Haltung als neutraler Staat beizubehalten.

Dabei konstatiert er eine Forcierung des irredentistischen Drucks auf die öffentliche Meinung in Italien, der insofern seit dem letzten Krieg 1866 zugenommen habe, als damals (vergeblich) lediglich eine Durchschneidung des Etschtales zwischen Bozen und Trient entlang der Sprachgrenze gefordert worden sei, da das junge Königreich seinerzeit kein Interesse gehabt habe, sich selbst eine deutschsprachige „Irredenta“ ins Land zu holen. Dies habe sich besonders seit Kriegsbeginn geändert, irredentistische Vereine im südlichen Tirol – von Freimaurern gefördert, von der Entente finanziell unterstützt und vor allem auch im Einklang mit reichsitalienischen Zeitschriften – verteilten mit der Genehmigung italienischer Behörden tausende von Flugschriften, in denen als Grenze die natürliche Wasserscheide zwischen Rhein und Donau sowie Etsch und Po andererseits gefordert würden. Vom geographischen Institut De Agostini in Novara würden Karten mit Grenzziehung auf dem Alpenhauptkamm verkauft, auf denen der Welschtiroler Nationalist Ettore Tolomei deutsche Ortsnamen (auch um die eigene Bevölkerung zu täuschen) italianisiert habe.

Zur Illustration legt Pflügl dem Akt die irredentistischen Broschüren „L’Alto Adige“ und „L’Italia agli Italiani“ bei (Erscheinungsjahre 1914 und 1915), die in Italien an zwölfjährige Kinder verteilt würden und auf denen bereits die Brennergrenze eingezeichnet ist – eine insofern bedenkliche Aktion, als Italien noch in politischer und nationaler Renaissance stehe und sich in jugendlichem Selbstvertrauen an Erfolge mit geringen Opfern gewöhnt habe.

Die wahren Führer des Irredentismus hätten freilich andere Pläne: Sie sähen als großen Erfolg an, die ehemalige deutsch-italienisch-ladinische Sprachgrenze zu erreichen, vom Ortler an der Wasserscheide zwischen Etsch und Noce entlang, südlich von Salurn die Etsch übersetzend, weiter in nordöstlicher Richtung über die Seiser Alm, St. Ulrich im Grödner Tal, St. Vigil im Enneberger Tal und schließlich von Lardaro bis zur Reichsgrenze.

Zufrieden geben würde sich die Irredenta jedoch bereits mit einem südlicheren Grenzverlauf von Noce bis Lavis, dort über die Etsch und das Fleimstal entlang; denn einerseits wüssten die Irredentisten, dass Österreich aus strategischen Gründen nicht alle von Italienern bewohnten Gebiete abtreten könne. Darüber hinaus benötige der Irredentismus Italiener im österreichischen Teil Tirols für spätere Ziele, denn nur so könne er (mit dem Geld der Lega Nazionale) die Sprachgrenze weiter nach Norden verschieben. Der Konsul verweist auf Klagen von 1848, wo bereits die Italianisierung deutscher Ortsnamen gebrandmarkt wurde und führt an, dass bereits italienische Höfe im Etschtal weit über Bozen hinaus zu finden seien. 

Im Falle einer Abtretung von Teilen Tirols würde die Irredenta das deutschsprachige Südtirol bis ins mittlere Eisacktal und weit in den Vintschgau hinein bedrohen. Aufgrund der schlechteren wirtschaftlichen Bedingungen in Italien wären die seinerzeitigen Welschtiroler (nunmehr: Ausländer) gezwungen, in den österreichischen Norden zu emigrieren und nunmehr die Speerspitze des Irredentismus zu bilden. Speziell die Trienter Weinbauern, die der italienischen Konkurrenz nicht gewachsen seien, müssten Österreich über die neue Grenze folgen.

Nach einigen Auslassungen über den italienisch-nationalistischen Trienter Bischof Celestino Endrizzi schließt Pflügl mit der Forderung – da es nicht genüge, wenn sich der Deutsche Schulverein für die Bildung der Tiroler Kinder engagiere - , dass die Regierung das deutschsprachige, kaisertreue Bauerntum Südtirols wirtschaftlich gezielt unterstützen solle, um dessen Auswanderung zu verhindern – das sei die Antwort auf die Strategien der nach Norden drängenden Irredenta.

Egon (Edler von) Pflügl (Linz 9. September 1869-Wien 18. Juni 1960) war Unterstaatssekretär im Staatsamt des Äußern vom 5. November 1918 bis zum 17. Oktober 1919 und Autor von „Die nationale Entwicklung Tirols in den letzten Jahrzehnten. Deutschtum im Kampf gegen italienisches Ausbreitungsbestreben“, 1918.

Irredenta in Tirol

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