Am 11. Dezember 1918 erschien in der sozialdemokratischen Wochenschrift Der Freie Soldat unter dem Titel Die elektrische Folter ein anonymer Beitrag, in dem massive Vorwürfe gegen die Behandlungsmethoden erhoben wurden, denen sich so bezeichnete Kriegsneurotiker wie auch vorgebliche Simulanten in den Kriegsjahren zu unterziehen hatten. Man habe schwer traumatisierten Frontsoldaten, die meist mit Symptomen heftiger und krampfartiger Zuckungen am ganzen Körper („Zitterer“) eingeliefert worden waren oder an psychotischen Nachwirkungen sog. shell shocks litten, bewusst, vorsätzlich und in inhumaner Weise Qualen zugefügt, die an die Grenzen des körperlich Erträglichen gegangen waren. Auf diese Weise sollte eine möglichst große Zahl neurasthenischer Patienten in möglichst kurzer Zeit erneut front- und einsatztauglich gemacht werden. Im Zentrum der Kritik stand die psychiatrische Klinik Wagner v. Jauregg.
Lediglich eine Woche später – in der latent sozialrevolutionären Atmosphäre der unmittelbaren Nachkriegszeit, auf Druck der Heimkehrer-Verbände und mit Unterstützung der Sozialdemokratie – wurde durch die Provisorische Nationalversammlung ein Gesetz über die Feststellung von „Pflichtverletzungen militärischer Organe im Kriege“ beschlossen. Eine entsprechende, ab März 1919 tätige Kommission stand unter der Leitung des angesehenen Juristen Alexander Löffler, zu ihren weiteren Mitgliedern zählten u. a. der Anatom Julius Tandler und nicht zuletzt Julius Wagner-Jauregg selbst.
Nachdem sich die Vorwürfe gegen den späteren Nobelpreisträger zunehmend verdichteten und im Wesentlichen auf die unsachgemäße und zu regelrechter Folter erweiterte Anwendung elektrotherapeutischer Schockmethoden hinausliefen, ließ Wagner-Jauregg sein Mandat in der Kommission ruhen; diese leitete ihrerseits im Oktober 1919 Erhebungen gegen den wohl profiliertesten Vertreter der klassischen Wiener Schule der Psychiatrie ein. Der zum externen Fachgutachter bestellte Sigmund Freud legte seine (handgeschriebene) Expertise am 25. Februar 1920 vor. Freud stand zwar der „elektrischen Heilmethode“ reserviert bis offen ablehnend gegenüber, ließ aber an der persönlichen und fachlichen Integrität Wagner-Jaureggs keinen wie immer gearteten Zweifel. Gleichwohl brachte die Verhandlung einen seit langem virulenten Richtungsstreit in der Wiener Psychiatrie präzise auf den Punkt, bündelten sich in ihr die wesentlichen Argumente zweier diametral entgegengesetzter medizinischer Diskurse. Die Verhandlung endete mit einer vollständigen Rehabilitierung Wagner-Jaureggs, der kurz danach auf eigenen Wunsch aus der Kommission austrat.

Gutachten über die elektrische Behandlung der Kriegsneurotiker von Prof. Dr. Sigmund Freud
Gutachten über die elektrische Behandlung der Kriegsneurotiker von Prof. Dr. Sigmund Freud
KA, Kommission zur Erhebung Militärischer Pflichtverletzung, Ktn. 15, Nr.436/1920
Gutachten über die elektrische Behandlung der Kriegsneurotiker
von Prof. Dr. Sigm. Freud
Es hat schon in Friedenszeiten reichlich Kranke gegeben, die nach Traumen d.h. schreckhaften u gefährlichen Erlebnissen wie Eisenhahnunfälle, u.d.gl schwere Störungen des Seelenlebens u der Nerventhätigkeit gezeigt haben, ohne daß die Ärzte in der Beurteilung dieser Zustände einig geworden wären. Die einen haben angenommen, daß es sich bei diesen Kranken um schwere Verletzungen des Nervensystems handle, ähnlich den Blutungen und Entzündungen in nicht traumatischen Krankheitsfällen, und als die anatomische Untersuchung solche Vorgänge nicht nachweisen konnte, haben sie doch den Glauben, an feinere gewebliche Veränderungen, als Ursache der beobachteten Symptome festgehalten. Sie haben also diese Unfallskranken zu den organisch Kranken gerechnet.
Andere Ärzte haben von Anfang an behauptet, daß man diese Zustände nur als funktionelle Störungen hei anatomischer Intaktheit des Nervensystems auffassen könne. Wie so schwere Störungen der Funktion ohne grobe Verletzung des Organs zu Stande kommen können, bereitete dem ärztlichen Verständnis lange Zeit Schwierigkeiten.
Der eben beendete Krieg hat nun eine ungeheuer große Anzahl solcher Unfallskranken geschaffen und zur Beobachtung gebracht. Dabei ist die Entscheidung der Streitfrage zu Gunsten der funktionellen Auffassung gefallen. Die weitaus überwiegende Mehrzahl der Ärzte glaubt nicht mehr daran, daß die sog. Kriegsneurotiker in folge von greifbaren, organischen Verletzungen des Nervensystems krank sind, und die Einsichtigeren unter ihnen haben sich auch bereits entschlossen, anstatt der unbestimmten Bezeichnung "funktionelle" Veränderung die unzweideutige Angabe: "seelische" Veränderung einzusetzen.
Obwohl die Äußerungen der Kriegsneurosen zum großen Teil Bewegungsstörungen – Zittern und Lähmungen – waren, und obwohl es nahe genug lag, so groben Einwirkungen wie der Erschütterung durch eine in der Nähe platzende Granate oder eine Erdverschüttung auch grob-mechanische Effekte zuzuschreiben, so ergaben sich doch Beobachtungen, welche an der psychischen Natur der Verursachung der sog. Kriegsneurosen keinen Zweifel ließen. Was konnte man dagegen sagen, wenn die nämlichen Krankheitszustände auch hinter der Front, fern von diesen Schrecknissen des Krieges oder unmittelbar nach dem Einrücken vom Urlaub auftraten? Die Ärzte wurden also darauf hingewiesen, die Kriegsneurotiker ähnlich aufzufassen wie die Nervösen des Friedenszustandes.
Die von mir ins Leben gerufene sog. psychoanalytische Schule der Psychiatrie hatte seit 25 Jahren gelehrt, daß die Friedensneurosen auf Störungen des Affektlebens zurückzuführen seien. Dieselbe Erklärung wurde nun ganz allgemein auf die Kriegsneurotiker angewendet. Wir hatten ferner angegeben, daß die Nervösen an seelischen Konflikten leiden, und daß die Wünsche und Tendenzen, welche sich in den Krankheitserscheinungen ausdrücken, den Kranken selbst unbekannt, also unbewußt sind. Es ergab sich also leicht als die nächste Ursache aller Kriegsneurosen die dem Soldaten unbewußte Tendenz, sich den gefahrvollen oder das Gefühl empörenden Anforderungen des Kriegsdienstes zu entziehen. Angst um das eigene Leben, Sträuben gegen den Auftrag andere zu tödten, Auflehnung gegen die rücksichtlose Unterdrückung der eigenen Persönlichkeit durch die Vorgesetzten, waren die wichtigsten Affektquellen, aus denen die kriegsflüchtige Tendenz gespeist wurde.
Ein Soldat, in dem diese affektiven Motive mächtig und klar bewußt gewesen wären, hätte als Gesunder desertieren oder sich krank stellen müssen. Die Kriegsneurotiker waren aber nur zum kleinsten Teil Simulanten; die Affektregungen, die sich in ihnen gegen den Kriegsdienst sträubten und sie in die Krankheit trieben wirkten in ihnen, ohne ihnen bewußt zu werden. Sie blieben unbewußt, weil andere Motive Ehrgeiz, Selbstachtung, Vaterlandsliebe, Gewöhnung an Gehorsam, das Beispiel der Anderen zunächst die Stärkeren waren, bis sie bei einem "passenden“ Anlaß von den anderen, unbewußt wirksamen Motiven überwältigt wurden.
An diese Einsicht in die Verursachung der Kriegsneurosen schloß sich eine Therapie an, die gut begründet schien und anfänglich sich auch als sehr wirksam erwies. Es schien zweckmäßig, den Neurotiker als Simulanten zu behandeln u sich über den psychologischen Unterschied zwischen bewußter und unbewußter Absicht hinauszusetzen, obwohl man wußte, daß er kein Simulant sei. Diente seine Krankheit der Absicht, sich einer unleidlichen Situation zu entziehen, so grub man ihr offenbar die Wurzeln ab, wenn man ihm das Kranksein noch unleidlicher als den Dienst machte. War er aus dem Krieg in die Krankheit geflüchtet so wendete man Mittel an, die ihn zwangen aus der Krankheit in die Gesundheit also in die Kriegsdiensttauglichkeit zurückzufliehen. Zu diesem Zwecke bediente man sich schmerzhafter elektrischer Behandlung und zwar mit Erfolg. Es ist eine nachträgliche Beschönigung, wenn Ärzte behaupten, die Stärke dieser elektrischen Ströme sei die nämliche gewesen, die von jeher bei funktionellen Störungen zur Verwendung kam. Dies hätte nur in den leichtesten Fällen wirken können, entsprach ja auch nicht dem zu Grunde liegenden Raisonnement, daß das Kranksein dem Kriegsneurotiker verleidet werden solle, so daß seine Motive zu Gunsten der Genesung umkippen müßten.
Diese in der deutschen Armee entstandene, in therapeutischer Absicht schmerzhafte Behandlung konnte gewiß auch in maßvoller Weise geübt werden. Wenn sie in den Wiener Kliniken angewendet wurde, so bin ich persönlich überzeugt, daß sie niemals durch die Initiative von Prof. Wagner-Jauregg ins Grausame gesteigert worden ist. Für andere Ärzte, die ich nicht kenne, will ich auch nicht einstehen. Die psychologische Schulung der Ärzte ist ganz allgemein recht mangelhaft, und mancher mag daran vergessen haben, daß der Kranke, den er als Simulanten behandeln will, doch keiner ist.
Dies therapeutische Verfahren war aber von vornherein mit einem Makel behaftet. Es zielte nicht auf die Herstellung des Kranken oder auf diese nicht in erster Linie, sondern vor allem auf die Herstellung seiner Kriegstüchtigkeit. Die Medizin stand eben diesmal im Dienste von Absichten, die ihr wesensfremd sind. Der Arzt war selbst ein Kriegsbeamter u hatte persönliche Gefahren, Zurücksetzung und den Vorwurf der Vernachlässigung des Dienstes zu fürchten, wenn er sich durch andere Rücksichten als die ihm vorgeschriebenen leiten ließ. Der unlösbare Konflikt zwischen den Anforderungen der Humanität, die sonst für den Arzt maßgebend sind, und denen des Volkskrieges mußte auch die Tätigkeit des Arztes verwirren.
Die anfangs glänzenden Erfolge der Starkstrombehandlung erwiesen sich dann auch nicht als dauerhaft. Der Kranke, der durch sie hergestellt an die Front zurückgeschickt worden war, konnte das Spiel von Neuem wiederholen, und rückfällig werden, wobei er zum Mindesten Zeit gewann u doch jener Gefahr auswich, die gerade aktuell war. Stand er wieder im Feuer, so trat die Angst vor dem Starkstrom zurück, wie während der Behandlung die Angst vor dem Kriegsdienst verblichen war. Auch machte sich die im Laufe der Kriegsjahre rasch zunehmende Ermüdung der Volksseele und ihre sich steigernde Abneigung gegen das Kriegführen immer mehr geltend, so daß die Erfolge der besprochenen Behandlung zu versagen begannen. In dieser Konstellation gab ein Teil der Militärärzte der für die Deutschen charakteristischen Neigung zur rücksichtslosen Durchsetzung ihrer Absichten nach, was niemals hätte geschehen dürfen, die Stärke der Ströme sowie die Härte der sonstigen Behandlung wurden bis zur Unerträglichkeit gesteigert, um den Kriegsneurotikern den Gewinn, den sie aus ihrem Kranksein zogen, zu entziehen. Es ist unwidersprochen geblieben, daß es damals zu Todesfällen während der Behandlung und zu Selbstmorden in Folge derselben in deutschen Spitälern kam. Ich weiß aber absolut nicht anzugehen, ob die Wiener Kliniken auch diese Phase der Therapie mitgemacht haben.
Für das endliche Scheitern der elektrischen Therapie der Kriegsneurosen kann ich einen zwingenden Beweis anführen. Im Jahre 1918 veröffentlichte Dr. Ernst Simmel, Leiter eines Lazaretts für Kriegsneurotiker (in Posen) eine Brochüre, in welcher er seine außerordentlich günstigen Erfolge bei schweren Fällen von Kriegsneurosen durch die von mir angegebene psychotherapeutische Methode mitteilte. Dank dieser Veröffentlichung wurde der nächste psychoanalytische Kongreß in Bpest, September 1818 (sic!) von offiziellen Delegierten der deutschen, österreichischen und ungarischen Armeeverwaltung besucht, welche dort die Zusage machten, daß Stationen zur rein psychischen Behandlung der Kriegsneurotiker eingerichtet werden sollen. Dies geschah, obwohl den Delegierten kein Zweifel daran bleiben konnte, daß bei dieser schonenden, mühsamen und langwierigen Behandlung auf eine möglichst beschleunigte Herstellung der Dienstfähigkeit dieser Kranken nicht zu rechnen sei. Die Vorbereitungen für die Einrichtung solcher Stationen waren eben im Gange, als der Umsturz hereinbrach, dem Krieg und dem Einfluß der bis dahin allmächtigen Ämter ein Ende setzte. Mit dem Krieg verschwanden aber auch die Kriegsneurotiker, ein letzter, aber schwer wiegender Beweis für die psychische Verursachung ihrer Krankheiten.
Wien, 23.2.20
(Orthographie und Interpunktion entsprechen dem Original)
Gutachten über die elektrische Behandlung der Kriegsneurotiker von Prof. Dr. Sigmund Freud
KA, Kommission zur Erhebung Militärischer Pflichtverletzung, Ktn. 15, Nr.436/1920
Gutachten über die elektrische Behandlung der Kriegsneurotiker
von Prof. Dr. Sigm. Freud
Es hat schon in Friedenszeiten reichlich Kranke gegeben, die nach Traumen d.h. schreckhaften u gefährlichen Erlebnissen wie Eisenhahnunfälle, u.d.gl schwere Störungen des Seelenlebens u der Nerventhätigkeit gezeigt haben, ohne daß die Ärzte in der Beurteilung dieser Zustände einig geworden wären. Die einen haben angenommen, daß es sich bei diesen Kranken um schwere Verletzungen des Nervensystems handle, ähnlich den Blutungen und Entzündungen in nicht traumatischen Krankheitsfällen, und als die anatomische Untersuchung solche Vorgänge nicht nachweisen konnte, haben sie doch den Glauben, an feinere gewebliche Veränderungen, als Ursache der beobachteten Symptome festgehalten. Sie haben also diese Unfallskranken zu den organisch Kranken gerechnet.
Andere Ärzte haben von Anfang an behauptet, daß man diese Zustände nur als funktionelle Störungen hei anatomischer Intaktheit des Nervensystems auffassen könne. Wie so schwere Störungen der Funktion ohne grobe Verletzung des Organs zu Stande kommen können, bereitete dem ärztlichen Verständnis lange Zeit Schwierigkeiten.
Der eben beendete Krieg hat nun eine ungeheuer große Anzahl solcher Unfallskranken geschaffen und zur Beobachtung gebracht. Dabei ist die Entscheidung der Streitfrage zu Gunsten der funktionellen Auffassung gefallen. Die weitaus überwiegende Mehrzahl der Ärzte glaubt nicht mehr daran, daß die sog. Kriegsneurotiker in folge von greifbaren, organischen Verletzungen des Nervensystems krank sind, und die Einsichtigeren unter ihnen haben sich auch bereits entschlossen, anstatt der unbestimmten Bezeichnung "funktionelle" Veränderung die unzweideutige Angabe: "seelische" Veränderung einzusetzen.
Obwohl die Äußerungen der Kriegsneurosen zum großen Teil Bewegungsstörungen – Zittern und Lähmungen – waren, und obwohl es nahe genug lag, so groben Einwirkungen wie der Erschütterung durch eine in der Nähe platzende Granate oder eine Erdverschüttung auch grob-mechanische Effekte zuzuschreiben, so ergaben sich doch Beobachtungen, welche an der psychischen Natur der Verursachung der sog. Kriegsneurosen keinen Zweifel ließen. Was konnte man dagegen sagen, wenn die nämlichen Krankheitszustände auch hinter der Front, fern von diesen Schrecknissen des Krieges oder unmittelbar nach dem Einrücken vom Urlaub auftraten? Die Ärzte wurden also darauf hingewiesen, die Kriegsneurotiker ähnlich aufzufassen wie die Nervösen des Friedenszustandes.
Die von mir ins Leben gerufene sog. psychoanalytische Schule der Psychiatrie hatte seit 25 Jahren gelehrt, daß die Friedensneurosen auf Störungen des Affektlebens zurückzuführen seien. Dieselbe Erklärung wurde nun ganz allgemein auf die Kriegsneurotiker angewendet. Wir hatten ferner angegeben, daß die Nervösen an seelischen Konflikten leiden, und daß die Wünsche und Tendenzen, welche sich in den Krankheitserscheinungen ausdrücken, den Kranken selbst unbekannt, also unbewußt sind. Es ergab sich also leicht als die nächste Ursache aller Kriegsneurosen die dem Soldaten unbewußte Tendenz, sich den gefahrvollen oder das Gefühl empörenden Anforderungen des Kriegsdienstes zu entziehen. Angst um das eigene Leben, Sträuben gegen den Auftrag andere zu tödten, Auflehnung gegen die rücksichtlose Unterdrückung der eigenen Persönlichkeit durch die Vorgesetzten, waren die wichtigsten Affektquellen, aus denen die kriegsflüchtige Tendenz gespeist wurde.
Ein Soldat, in dem diese affektiven Motive mächtig und klar bewußt gewesen wären, hätte als Gesunder desertieren oder sich krank stellen müssen. Die Kriegsneurotiker waren aber nur zum kleinsten Teil Simulanten; die Affektregungen, die sich in ihnen gegen den Kriegsdienst sträubten und sie in die Krankheit trieben wirkten in ihnen, ohne ihnen bewußt zu werden. Sie blieben unbewußt, weil andere Motive Ehrgeiz, Selbstachtung, Vaterlandsliebe, Gewöhnung an Gehorsam, das Beispiel der Anderen zunächst die Stärkeren waren, bis sie bei einem "passenden“ Anlaß von den anderen, unbewußt wirksamen Motiven überwältigt wurden.
An diese Einsicht in die Verursachung der Kriegsneurosen schloß sich eine Therapie an, die gut begründet schien und anfänglich sich auch als sehr wirksam erwies. Es schien zweckmäßig, den Neurotiker als Simulanten zu behandeln u sich über den psychologischen Unterschied zwischen bewußter und unbewußter Absicht hinauszusetzen, obwohl man wußte, daß er kein Simulant sei. Diente seine Krankheit der Absicht, sich einer unleidlichen Situation zu entziehen, so grub man ihr offenbar die Wurzeln ab, wenn man ihm das Kranksein noch unleidlicher als den Dienst machte. War er aus dem Krieg in die Krankheit geflüchtet so wendete man Mittel an, die ihn zwangen aus der Krankheit in die Gesundheit also in die Kriegsdiensttauglichkeit zurückzufliehen. Zu diesem Zwecke bediente man sich schmerzhafter elektrischer Behandlung und zwar mit Erfolg. Es ist eine nachträgliche Beschönigung, wenn Ärzte behaupten, die Stärke dieser elektrischen Ströme sei die nämliche gewesen, die von jeher bei funktionellen Störungen zur Verwendung kam. Dies hätte nur in den leichtesten Fällen wirken können, entsprach ja auch nicht dem zu Grunde liegenden Raisonnement, daß das Kranksein dem Kriegsneurotiker verleidet werden solle, so daß seine Motive zu Gunsten der Genesung umkippen müßten.
Diese in der deutschen Armee entstandene, in therapeutischer Absicht schmerzhafte Behandlung konnte gewiß auch in maßvoller Weise geübt werden. Wenn sie in den Wiener Kliniken angewendet wurde, so bin ich persönlich überzeugt, daß sie niemals durch die Initiative von Prof. Wagner-Jauregg ins Grausame gesteigert worden ist. Für andere Ärzte, die ich nicht kenne, will ich auch nicht einstehen. Die psychologische Schulung der Ärzte ist ganz allgemein recht mangelhaft, und mancher mag daran vergessen haben, daß der Kranke, den er als Simulanten behandeln will, doch keiner ist.
Dies therapeutische Verfahren war aber von vornherein mit einem Makel behaftet. Es zielte nicht auf die Herstellung des Kranken oder auf diese nicht in erster Linie, sondern vor allem auf die Herstellung seiner Kriegstüchtigkeit. Die Medizin stand eben diesmal im Dienste von Absichten, die ihr wesensfremd sind. Der Arzt war selbst ein Kriegsbeamter u hatte persönliche Gefahren, Zurücksetzung und den Vorwurf der Vernachlässigung des Dienstes zu fürchten, wenn er sich durch andere Rücksichten als die ihm vorgeschriebenen leiten ließ. Der unlösbare Konflikt zwischen den Anforderungen der Humanität, die sonst für den Arzt maßgebend sind, und denen des Volkskrieges mußte auch die Tätigkeit des Arztes verwirren.
Die anfangs glänzenden Erfolge der Starkstrombehandlung erwiesen sich dann auch nicht als dauerhaft. Der Kranke, der durch sie hergestellt an die Front zurückgeschickt worden war, konnte das Spiel von Neuem wiederholen, und rückfällig werden, wobei er zum Mindesten Zeit gewann u doch jener Gefahr auswich, die gerade aktuell war. Stand er wieder im Feuer, so trat die Angst vor dem Starkstrom zurück, wie während der Behandlung die Angst vor dem Kriegsdienst verblichen war. Auch machte sich die im Laufe der Kriegsjahre rasch zunehmende Ermüdung der Volksseele und ihre sich steigernde Abneigung gegen das Kriegführen immer mehr geltend, so daß die Erfolge der besprochenen Behandlung zu versagen begannen. In dieser Konstellation gab ein Teil der Militärärzte der für die Deutschen charakteristischen Neigung zur rücksichtslosen Durchsetzung ihrer Absichten nach, was niemals hätte geschehen dürfen, die Stärke der Ströme sowie die Härte der sonstigen Behandlung wurden bis zur Unerträglichkeit gesteigert, um den Kriegsneurotikern den Gewinn, den sie aus ihrem Kranksein zogen, zu entziehen. Es ist unwidersprochen geblieben, daß es damals zu Todesfällen während der Behandlung und zu Selbstmorden in Folge derselben in deutschen Spitälern kam. Ich weiß aber absolut nicht anzugehen, ob die Wiener Kliniken auch diese Phase der Therapie mitgemacht haben.
Für das endliche Scheitern der elektrischen Therapie der Kriegsneurosen kann ich einen zwingenden Beweis anführen. Im Jahre 1918 veröffentlichte Dr. Ernst Simmel, Leiter eines Lazaretts für Kriegsneurotiker (in Posen) eine Brochüre, in welcher er seine außerordentlich günstigen Erfolge bei schweren Fällen von Kriegsneurosen durch die von mir angegebene psychotherapeutische Methode mitteilte. Dank dieser Veröffentlichung wurde der nächste psychoanalytische Kongreß in Bpest, September 1818 (sic!) von offiziellen Delegierten der deutschen, österreichischen und ungarischen Armeeverwaltung besucht, welche dort die Zusage machten, daß Stationen zur rein psychischen Behandlung der Kriegsneurotiker eingerichtet werden sollen. Dies geschah, obwohl den Delegierten kein Zweifel daran bleiben konnte, daß bei dieser schonenden, mühsamen und langwierigen Behandlung auf eine möglichst beschleunigte Herstellung der Dienstfähigkeit dieser Kranken nicht zu rechnen sei. Die Vorbereitungen für die Einrichtung solcher Stationen waren eben im Gange, als der Umsturz hereinbrach, dem Krieg und dem Einfluß der bis dahin allmächtigen Ämter ein Ende setzte. Mit dem Krieg verschwanden aber auch die Kriegsneurotiker, ein letzter, aber schwer wiegender Beweis für die psychische Verursachung ihrer Krankheiten.
Wien, 23.2.20
(Orthographie und Interpunktion entsprechen dem Original)
Gutachten über die elektrische Behandlung der Kriegsneurotiker von Prof. Dr. Sigmund Freud
KA, Kommission zur Erhebung Militärischer Pflichtverletzung, Ktn. 15, Nr.436/1920
Gutachten über die elektrische Behandlung der Kriegsneurotiker
von Prof. Dr. Sigm. Freud
Es hat schon in Friedenszeiten reichlich Kranke gegeben, die nach Traumen d.h. schreckhaften u gefährlichen Erlebnissen wie Eisenhahnunfälle, u.d.gl schwere Störungen des Seelenlebens u der Nerventhätigkeit gezeigt haben, ohne daß die Ärzte in der Beurteilung dieser Zustände einig geworden wären. Die einen haben angenommen, daß es sich bei diesen Kranken um schwere Verletzungen des Nervensystems handle, ähnlich den Blutungen und Entzündungen in nicht traumatischen Krankheitsfällen, und als die anatomische Untersuchung solche Vorgänge nicht nachweisen konnte, haben sie doch den Glauben, an feinere gewebliche Veränderungen, als Ursache der beobachteten Symptome festgehalten. Sie haben also diese Unfallskranken zu den organisch Kranken gerechnet.
Andere Ärzte haben von Anfang an behauptet, daß man diese Zustände nur als funktionelle Störungen hei anatomischer Intaktheit des Nervensystems auffassen könne. Wie so schwere Störungen der Funktion ohne grobe Verletzung des Organs zu Stande kommen können, bereitete dem ärztlichen Verständnis lange Zeit Schwierigkeiten.
Der eben beendete Krieg hat nun eine ungeheuer große Anzahl solcher Unfallskranken geschaffen und zur Beobachtung gebracht. Dabei ist die Entscheidung der Streitfrage zu Gunsten der funktionellen Auffassung gefallen. Die weitaus überwiegende Mehrzahl der Ärzte glaubt nicht mehr daran, daß die sog. Kriegsneurotiker in folge von greifbaren, organischen Verletzungen des Nervensystems krank sind, und die Einsichtigeren unter ihnen haben sich auch bereits entschlossen, anstatt der unbestimmten Bezeichnung "funktionelle" Veränderung die unzweideutige Angabe: "seelische" Veränderung einzusetzen.
Obwohl die Äußerungen der Kriegsneurosen zum großen Teil Bewegungsstörungen – Zittern und Lähmungen – waren, und obwohl es nahe genug lag, so groben Einwirkungen wie der Erschütterung durch eine in der Nähe platzende Granate oder eine Erdverschüttung auch grob-mechanische Effekte zuzuschreiben, so ergaben sich doch Beobachtungen, welche an der psychischen Natur der Verursachung der sog. Kriegsneurosen keinen Zweifel ließen. Was konnte man dagegen sagen, wenn die nämlichen Krankheitszustände auch hinter der Front, fern von diesen Schrecknissen des Krieges oder unmittelbar nach dem Einrücken vom Urlaub auftraten? Die Ärzte wurden also darauf hingewiesen, die Kriegsneurotiker ähnlich aufzufassen wie die Nervösen des Friedenszustandes.
Die von mir ins Leben gerufene sog. psychoanalytische Schule der Psychiatrie hatte seit 25 Jahren gelehrt, daß die Friedensneurosen auf Störungen des Affektlebens zurückzuführen seien. Dieselbe Erklärung wurde nun ganz allgemein auf die Kriegsneurotiker angewendet. Wir hatten ferner angegeben, daß die Nervösen an seelischen Konflikten leiden, und daß die Wünsche und Tendenzen, welche sich in den Krankheitserscheinungen ausdrücken, den Kranken selbst unbekannt, also unbewußt sind. Es ergab sich also leicht als die nächste Ursache aller Kriegsneurosen die dem Soldaten unbewußte Tendenz, sich den gefahrvollen oder das Gefühl empörenden Anforderungen des Kriegsdienstes zu entziehen. Angst um das eigene Leben, Sträuben gegen den Auftrag andere zu tödten, Auflehnung gegen die rücksichtlose Unterdrückung der eigenen Persönlichkeit durch die Vorgesetzten, waren die wichtigsten Affektquellen, aus denen die kriegsflüchtige Tendenz gespeist wurde.
Ein Soldat, in dem diese affektiven Motive mächtig und klar bewußt gewesen wären, hätte als Gesunder desertieren oder sich krank stellen müssen. Die Kriegsneurotiker waren aber nur zum kleinsten Teil Simulanten; die Affektregungen, die sich in ihnen gegen den Kriegsdienst sträubten und sie in die Krankheit trieben wirkten in ihnen, ohne ihnen bewußt zu werden. Sie blieben unbewußt, weil andere Motive Ehrgeiz, Selbstachtung, Vaterlandsliebe, Gewöhnung an Gehorsam, das Beispiel der Anderen zunächst die Stärkeren waren, bis sie bei einem "passenden“ Anlaß von den anderen, unbewußt wirksamen Motiven überwältigt wurden.
An diese Einsicht in die Verursachung der Kriegsneurosen schloß sich eine Therapie an, die gut begründet schien und anfänglich sich auch als sehr wirksam erwies. Es schien zweckmäßig, den Neurotiker als Simulanten zu behandeln u sich über den psychologischen Unterschied zwischen bewußter und unbewußter Absicht hinauszusetzen, obwohl man wußte, daß er kein Simulant sei. Diente seine Krankheit der Absicht, sich einer unleidlichen Situation zu entziehen, so grub man ihr offenbar die Wurzeln ab, wenn man ihm das Kranksein noch unleidlicher als den Dienst machte. War er aus dem Krieg in die Krankheit geflüchtet so wendete man Mittel an, die ihn zwangen aus der Krankheit in die Gesundheit also in die Kriegsdiensttauglichkeit zurückzufliehen. Zu diesem Zwecke bediente man sich schmerzhafter elektrischer Behandlung und zwar mit Erfolg. Es ist eine nachträgliche Beschönigung, wenn Ärzte behaupten, die Stärke dieser elektrischen Ströme sei die nämliche gewesen, die von jeher bei funktionellen Störungen zur Verwendung kam. Dies hätte nur in den leichtesten Fällen wirken können, entsprach ja auch nicht dem zu Grunde liegenden Raisonnement, daß das Kranksein dem Kriegsneurotiker verleidet werden solle, so daß seine Motive zu Gunsten der Genesung umkippen müßten.
Diese in der deutschen Armee entstandene, in therapeutischer Absicht schmerzhafte Behandlung konnte gewiß auch in maßvoller Weise geübt werden. Wenn sie in den Wiener Kliniken angewendet wurde, so bin ich persönlich überzeugt, daß sie niemals durch die Initiative von Prof. Wagner-Jauregg ins Grausame gesteigert worden ist. Für andere Ärzte, die ich nicht kenne, will ich auch nicht einstehen. Die psychologische Schulung der Ärzte ist ganz allgemein recht mangelhaft, und mancher mag daran vergessen haben, daß der Kranke, den er als Simulanten behandeln will, doch keiner ist.
Dies therapeutische Verfahren war aber von vornherein mit einem Makel behaftet. Es zielte nicht auf die Herstellung des Kranken oder auf diese nicht in erster Linie, sondern vor allem auf die Herstellung seiner Kriegstüchtigkeit. Die Medizin stand eben diesmal im Dienste von Absichten, die ihr wesensfremd sind. Der Arzt war selbst ein Kriegsbeamter u hatte persönliche Gefahren, Zurücksetzung und den Vorwurf der Vernachlässigung des Dienstes zu fürchten, wenn er sich durch andere Rücksichten als die ihm vorgeschriebenen leiten ließ. Der unlösbare Konflikt zwischen den Anforderungen der Humanität, die sonst für den Arzt maßgebend sind, und denen des Volkskrieges mußte auch die Tätigkeit des Arztes verwirren.
Die anfangs glänzenden Erfolge der Starkstrombehandlung erwiesen sich dann auch nicht als dauerhaft. Der Kranke, der durch sie hergestellt an die Front zurückgeschickt worden war, konnte das Spiel von Neuem wiederholen, und rückfällig werden, wobei er zum Mindesten Zeit gewann u doch jener Gefahr auswich, die gerade aktuell war. Stand er wieder im Feuer, so trat die Angst vor dem Starkstrom zurück, wie während der Behandlung die Angst vor dem Kriegsdienst verblichen war. Auch machte sich die im Laufe der Kriegsjahre rasch zunehmende Ermüdung der Volksseele und ihre sich steigernde Abneigung gegen das Kriegführen immer mehr geltend, so daß die Erfolge der besprochenen Behandlung zu versagen begannen. In dieser Konstellation gab ein Teil der Militärärzte der für die Deutschen charakteristischen Neigung zur rücksichtslosen Durchsetzung ihrer Absichten nach, was niemals hätte geschehen dürfen, die Stärke der Ströme sowie die Härte der sonstigen Behandlung wurden bis zur Unerträglichkeit gesteigert, um den Kriegsneurotikern den Gewinn, den sie aus ihrem Kranksein zogen, zu entziehen. Es ist unwidersprochen geblieben, daß es damals zu Todesfällen während der Behandlung und zu Selbstmorden in Folge derselben in deutschen Spitälern kam. Ich weiß aber absolut nicht anzugehen, ob die Wiener Kliniken auch diese Phase der Therapie mitgemacht haben.
Für das endliche Scheitern der elektrischen Therapie der Kriegsneurosen kann ich einen zwingenden Beweis anführen. Im Jahre 1918 veröffentlichte Dr. Ernst Simmel, Leiter eines Lazaretts für Kriegsneurotiker (in Posen) eine Brochüre, in welcher er seine außerordentlich günstigen Erfolge bei schweren Fällen von Kriegsneurosen durch die von mir angegebene psychotherapeutische Methode mitteilte. Dank dieser Veröffentlichung wurde der nächste psychoanalytische Kongreß in Bpest, September 1818 (sic!) von offiziellen Delegierten der deutschen, österreichischen und ungarischen Armeeverwaltung besucht, welche dort die Zusage machten, daß Stationen zur rein psychischen Behandlung der Kriegsneurotiker eingerichtet werden sollen. Dies geschah, obwohl den Delegierten kein Zweifel daran bleiben konnte, daß bei dieser schonenden, mühsamen und langwierigen Behandlung auf eine möglichst beschleunigte Herstellung der Dienstfähigkeit dieser Kranken nicht zu rechnen sei. Die Vorbereitungen für die Einrichtung solcher Stationen waren eben im Gange, als der Umsturz hereinbrach, dem Krieg und dem Einfluß der bis dahin allmächtigen Ämter ein Ende setzte. Mit dem Krieg verschwanden aber auch die Kriegsneurotiker, ein letzter, aber schwer wiegender Beweis für die psychische Verursachung ihrer Krankheiten.
Wien, 23.2.20
(Orthographie und Interpunktion entsprechen dem Original)
Gutachten über die elektrische Behandlung der Kriegsneurotiker von Prof. Dr. Sigmund Freud
KA, Kommission zur Erhebung Militärischer Pflichtverletzung, Ktn. 15, Nr.436/1920
Gutachten über die elektrische Behandlung der Kriegsneurotiker
von Prof. Dr. Sigm. Freud
Es hat schon in Friedenszeiten reichlich Kranke gegeben, die nach Traumen d.h. schreckhaften u gefährlichen Erlebnissen wie Eisenhahnunfälle, u.d.gl schwere Störungen des Seelenlebens u der Nerventhätigkeit gezeigt haben, ohne daß die Ärzte in der Beurteilung dieser Zustände einig geworden wären. Die einen haben angenommen, daß es sich bei diesen Kranken um schwere Verletzungen des Nervensystems handle, ähnlich den Blutungen und Entzündungen in nicht traumatischen Krankheitsfällen, und als die anatomische Untersuchung solche Vorgänge nicht nachweisen konnte, haben sie doch den Glauben, an feinere gewebliche Veränderungen, als Ursache der beobachteten Symptome festgehalten. Sie haben also diese Unfallskranken zu den organisch Kranken gerechnet.
Andere Ärzte haben von Anfang an behauptet, daß man diese Zustände nur als funktionelle Störungen hei anatomischer Intaktheit des Nervensystems auffassen könne. Wie so schwere Störungen der Funktion ohne grobe Verletzung des Organs zu Stande kommen können, bereitete dem ärztlichen Verständnis lange Zeit Schwierigkeiten.
Der eben beendete Krieg hat nun eine ungeheuer große Anzahl solcher Unfallskranken geschaffen und zur Beobachtung gebracht. Dabei ist die Entscheidung der Streitfrage zu Gunsten der funktionellen Auffassung gefallen. Die weitaus überwiegende Mehrzahl der Ärzte glaubt nicht mehr daran, daß die sog. Kriegsneurotiker in folge von greifbaren, organischen Verletzungen des Nervensystems krank sind, und die Einsichtigeren unter ihnen haben sich auch bereits entschlossen, anstatt der unbestimmten Bezeichnung "funktionelle" Veränderung die unzweideutige Angabe: "seelische" Veränderung einzusetzen.
Obwohl die Äußerungen der Kriegsneurosen zum großen Teil Bewegungsstörungen – Zittern und Lähmungen – waren, und obwohl es nahe genug lag, so groben Einwirkungen wie der Erschütterung durch eine in der Nähe platzende Granate oder eine Erdverschüttung auch grob-mechanische Effekte zuzuschreiben, so ergaben sich doch Beobachtungen, welche an der psychischen Natur der Verursachung der sog. Kriegsneurosen keinen Zweifel ließen. Was konnte man dagegen sagen, wenn die nämlichen Krankheitszustände auch hinter der Front, fern von diesen Schrecknissen des Krieges oder unmittelbar nach dem Einrücken vom Urlaub auftraten? Die Ärzte wurden also darauf hingewiesen, die Kriegsneurotiker ähnlich aufzufassen wie die Nervösen des Friedenszustandes.
Die von mir ins Leben gerufene sog. psychoanalytische Schule der Psychiatrie hatte seit 25 Jahren gelehrt, daß die Friedensneurosen auf Störungen des Affektlebens zurückzuführen seien. Dieselbe Erklärung wurde nun ganz allgemein auf die Kriegsneurotiker angewendet. Wir hatten ferner angegeben, daß die Nervösen an seelischen Konflikten leiden, und daß die Wünsche und Tendenzen, welche sich in den Krankheitserscheinungen ausdrücken, den Kranken selbst unbekannt, also unbewußt sind. Es ergab sich also leicht als die nächste Ursache aller Kriegsneurosen die dem Soldaten unbewußte Tendenz, sich den gefahrvollen oder das Gefühl empörenden Anforderungen des Kriegsdienstes zu entziehen. Angst um das eigene Leben, Sträuben gegen den Auftrag andere zu tödten, Auflehnung gegen die rücksichtlose Unterdrückung der eigenen Persönlichkeit durch die Vorgesetzten, waren die wichtigsten Affektquellen, aus denen die kriegsflüchtige Tendenz gespeist wurde.
Ein Soldat, in dem diese affektiven Motive mächtig und klar bewußt gewesen wären, hätte als Gesunder desertieren oder sich krank stellen müssen. Die Kriegsneurotiker waren aber nur zum kleinsten Teil Simulanten; die Affektregungen, die sich in ihnen gegen den Kriegsdienst sträubten und sie in die Krankheit trieben wirkten in ihnen, ohne ihnen bewußt zu werden. Sie blieben unbewußt, weil andere Motive Ehrgeiz, Selbstachtung, Vaterlandsliebe, Gewöhnung an Gehorsam, das Beispiel der Anderen zunächst die Stärkeren waren, bis sie bei einem "passenden“ Anlaß von den anderen, unbewußt wirksamen Motiven überwältigt wurden.
An diese Einsicht in die Verursachung der Kriegsneurosen schloß sich eine Therapie an, die gut begründet schien und anfänglich sich auch als sehr wirksam erwies. Es schien zweckmäßig, den Neurotiker als Simulanten zu behandeln u sich über den psychologischen Unterschied zwischen bewußter und unbewußter Absicht hinauszusetzen, obwohl man wußte, daß er kein Simulant sei. Diente seine Krankheit der Absicht, sich einer unleidlichen Situation zu entziehen, so grub man ihr offenbar die Wurzeln ab, wenn man ihm das Kranksein noch unleidlicher als den Dienst machte. War er aus dem Krieg in die Krankheit geflüchtet so wendete man Mittel an, die ihn zwangen aus der Krankheit in die Gesundheit also in die Kriegsdiensttauglichkeit zurückzufliehen. Zu diesem Zwecke bediente man sich schmerzhafter elektrischer Behandlung und zwar mit Erfolg. Es ist eine nachträgliche Beschönigung, wenn Ärzte behaupten, die Stärke dieser elektrischen Ströme sei die nämliche gewesen, die von jeher bei funktionellen Störungen zur Verwendung kam. Dies hätte nur in den leichtesten Fällen wirken können, entsprach ja auch nicht dem zu Grunde liegenden Raisonnement, daß das Kranksein dem Kriegsneurotiker verleidet werden solle, so daß seine Motive zu Gunsten der Genesung umkippen müßten.
Diese in der deutschen Armee entstandene, in therapeutischer Absicht schmerzhafte Behandlung konnte gewiß auch in maßvoller Weise geübt werden. Wenn sie in den Wiener Kliniken angewendet wurde, so bin ich persönlich überzeugt, daß sie niemals durch die Initiative von Prof. Wagner-Jauregg ins Grausame gesteigert worden ist. Für andere Ärzte, die ich nicht kenne, will ich auch nicht einstehen. Die psychologische Schulung der Ärzte ist ganz allgemein recht mangelhaft, und mancher mag daran vergessen haben, daß der Kranke, den er als Simulanten behandeln will, doch keiner ist.
Dies therapeutische Verfahren war aber von vornherein mit einem Makel behaftet. Es zielte nicht auf die Herstellung des Kranken oder auf diese nicht in erster Linie, sondern vor allem auf die Herstellung seiner Kriegstüchtigkeit. Die Medizin stand eben diesmal im Dienste von Absichten, die ihr wesensfremd sind. Der Arzt war selbst ein Kriegsbeamter u hatte persönliche Gefahren, Zurücksetzung und den Vorwurf der Vernachlässigung des Dienstes zu fürchten, wenn er sich durch andere Rücksichten als die ihm vorgeschriebenen leiten ließ. Der unlösbare Konflikt zwischen den Anforderungen der Humanität, die sonst für den Arzt maßgebend sind, und denen des Volkskrieges mußte auch die Tätigkeit des Arztes verwirren.
Die anfangs glänzenden Erfolge der Starkstrombehandlung erwiesen sich dann auch nicht als dauerhaft. Der Kranke, der durch sie hergestellt an die Front zurückgeschickt worden war, konnte das Spiel von Neuem wiederholen, und rückfällig werden, wobei er zum Mindesten Zeit gewann u doch jener Gefahr auswich, die gerade aktuell war. Stand er wieder im Feuer, so trat die Angst vor dem Starkstrom zurück, wie während der Behandlung die Angst vor dem Kriegsdienst verblichen war. Auch machte sich die im Laufe der Kriegsjahre rasch zunehmende Ermüdung der Volksseele und ihre sich steigernde Abneigung gegen das Kriegführen immer mehr geltend, so daß die Erfolge der besprochenen Behandlung zu versagen begannen. In dieser Konstellation gab ein Teil der Militärärzte der für die Deutschen charakteristischen Neigung zur rücksichtslosen Durchsetzung ihrer Absichten nach, was niemals hätte geschehen dürfen, die Stärke der Ströme sowie die Härte der sonstigen Behandlung wurden bis zur Unerträglichkeit gesteigert, um den Kriegsneurotikern den Gewinn, den sie aus ihrem Kranksein zogen, zu entziehen. Es ist unwidersprochen geblieben, daß es damals zu Todesfällen während der Behandlung und zu Selbstmorden in Folge derselben in deutschen Spitälern kam. Ich weiß aber absolut nicht anzugehen, ob die Wiener Kliniken auch diese Phase der Therapie mitgemacht haben.
Für das endliche Scheitern der elektrischen Therapie der Kriegsneurosen kann ich einen zwingenden Beweis anführen. Im Jahre 1918 veröffentlichte Dr. Ernst Simmel, Leiter eines Lazaretts für Kriegsneurotiker (in Posen) eine Brochüre, in welcher er seine außerordentlich günstigen Erfolge bei schweren Fällen von Kriegsneurosen durch die von mir angegebene psychotherapeutische Methode mitteilte. Dank dieser Veröffentlichung wurde der nächste psychoanalytische Kongreß in Bpest, September 1818 (sic!) von offiziellen Delegierten der deutschen, österreichischen und ungarischen Armeeverwaltung besucht, welche dort die Zusage machten, daß Stationen zur rein psychischen Behandlung der Kriegsneurotiker eingerichtet werden sollen. Dies geschah, obwohl den Delegierten kein Zweifel daran bleiben konnte, daß bei dieser schonenden, mühsamen und langwierigen Behandlung auf eine möglichst beschleunigte Herstellung der Dienstfähigkeit dieser Kranken nicht zu rechnen sei. Die Vorbereitungen für die Einrichtung solcher Stationen waren eben im Gange, als der Umsturz hereinbrach, dem Krieg und dem Einfluß der bis dahin allmächtigen Ämter ein Ende setzte. Mit dem Krieg verschwanden aber auch die Kriegsneurotiker, ein letzter, aber schwer wiegender Beweis für die psychische Verursachung ihrer Krankheiten.
Wien, 23.2.20
(Orthographie und Interpunktion entsprechen dem Original)