Sigmund Freud Gutachten zu Elektroschocks

Am 11. Dezember 1918 erschien in der sozialdemokratischen Wochenschrift Der Freie Soldat  unter dem Titel Die elektrische Folter ein anonymer Beitrag, in dem massive Vorwürfe gegen die Behandlungsmethoden erhoben wurden, denen sich so bezeichnete Kriegsneurotiker wie auch vorgebliche Simulanten in den Kriegsjahren zu unterziehen hatten. Man habe schwer traumatisierten Frontsoldaten, die meist mit Symptomen heftiger und krampfartiger Zuckungen am ganzen Körper („Zitterer“) eingeliefert worden waren oder an psychotischen Nachwirkungen sog. shell shocks litten, bewusst, vorsätzlich und in inhumaner Weise Qualen zugefügt, die an die Grenzen des körperlich Erträglichen gegangen waren. Auf diese Weise sollte eine möglichst große Zahl neurasthenischer Patienten in möglichst kurzer Zeit erneut front- und einsatztauglich gemacht werden. Im Zentrum der Kritik stand die psychiatrische Klinik Wagner v. Jauregg.

Lediglich eine Woche später  – in der latent sozialrevolutionären Atmosphäre der unmittelbaren Nachkriegszeit, auf Druck der Heimkehrer-Verbände und mit Unterstützung der Sozialdemokratie – wurde durch die Provisorische Nationalversammlung ein Gesetz über die Feststellung von „Pflichtverletzungen  militärischer Organe im Kriege“ beschlossen. Eine entsprechende, ab März 1919 tätige Kommission stand unter der Leitung des angesehenen Juristen Alexander Löffler, zu ihren weiteren Mitgliedern zählten u. a. der Anatom Julius Tandler und nicht zuletzt Julius Wagner-Jauregg selbst. 

Nachdem sich die Vorwürfe gegen den späteren Nobelpreisträger zunehmend verdichteten und im Wesentlichen auf die unsachgemäße und zu regelrechter Folter erweiterte Anwendung elektrotherapeutischer Schockmethoden hinausliefen, ließ Wagner-Jauregg sein Mandat in der Kommission ruhen; diese leitete ihrerseits im Oktober 1919 Erhebungen gegen den wohl profiliertesten Vertreter der klassischen Wiener Schule der Psychiatrie ein. Der zum externen Fachgutachter bestellte Sigmund Freud legte seine (handgeschriebene) Expertise am 25. Februar 1920 vor. Freud stand zwar der „elektrischen Heilmethode“ reserviert bis offen ablehnend gegenüber, ließ aber an der persönlichen und fachlichen Integrität Wagner-Jaureggs keinen wie immer gearteten Zweifel. Gleichwohl brachte die Verhandlung einen seit langem virulenten Richtungsstreit in der Wiener Psychiatrie präzise auf den Punkt, bündelten sich in ihr die wesentlichen Argumente zweier diametral entgegengesetzter medizinischer Diskurse. Die Verhandlung endete mit einer vollständigen Rehabilitierung Wagner-Jaureggs, der kurz danach auf eigenen Wunsch aus der Kommission austrat.

Gutachten über die elektrische Behandlung der Kriegsneurotiker von Prof. Dr. Sigmund Freud

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