Auf den Spuren der Wahrheit

Tagebucheintrag vom
23.06.1918
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Kaiser
Tagebucheintrag von
Karl Schneller
Erklärung
23.6.1918

Wieder einmal ein Sonntag mit dem üblichen Kirchengang. Nachmittags Besuch des Erzherzog Friedrich, von Heinz begleitet. Er kam im Auftrag des Kaisers, um dessen Grüße an die Truppen zu überbringen und ihnen zu sagen, dass der Kaiser nach wie vor fest auf ihre Tapferkeit und Standhaftigkeit vertraut. Was das bedeutet, ist aus dem heutigen Pressebericht zu ersehen. Von Heinz erfahre ich einiges über die Wirtschaft, die jetzt herrscht. Der Kaiser fährt mit dem Chef des Generalstabes fortwährend herum, so auch Waldstätten. Der eitle allerhöchste Herr, von Schmeichlern verführt, scheint sich selbst in die Operationen zu mischen. Beim AOK war am ersten Tag große Niedergeschlagenheit, ja fast Kopflosigkeit, heute ist aber schon wieder alles in bester Stimmung. Unsere Verluste waren sehr groß; bei der 11. Armee allein 70.000. Erzherzog nimmt die Sache anscheinend auch sehr leicht; Hauptsache sei die Zuversicht… Abends in Trient Nachtmahl aller Korps Kommandanten; ich Gott sei Dank nicht dabei. Heinz erkundigte sich auch um die Angriffsverhältnisse am Pasubio - Zugria Gebiet. Ich sage ihm, dass wir mindestens eine sehr gute Angriffsdivision noch zu unseren jetzigen Kräften und sehr viel Artillerie brauchen. Auch müsste uns sehr frühzeitig bekanntgegeben werden, um was es sich handelt; dann wäre die Sache, wenn wir aus dem vollen schöpfen können, in 4 Wochen vorzubereiten.

Der abends eintreffende Bericht über die Morgenlage an der Piave enthält die Zurücknahme unserer Front und enthüllt unsere Niederlage in ihrer ganzen Größe. Die Folgen sind unabsehbar.

Erzherzog Friedrich sagte heute, wir hätten schon schwerere Krisen mitgemacht. Das ist nicht wahr. Militärisch wohl aber in ihren allgemeinen Wirkungen ist dies die gefährlichste. Im Hinterland, besonders in der Hauptstadt, der Hunger; die Armee entmutigt und größtenteils durch feindliche Propaganda und unsere politischen Verhältnisse verseucht; nirgends eine Ordnung, ein Ziel. Dabei heute der Kaiser mit seiner ganzen Gesellschaft in der Fahrt nach Baden, statt an den Arbeitstischen! Man kann aber sagen: Die Weltgeschichte ist das Weltgericht.

Die Mitteilung des 10. AKs. über die ganze Sache enthält den läppischen Zusatz: „Uferwechsel erfolgt aus operativen Gründen, um Kräfte verfügbar zu machen für Stoß an anderer Front“.

Auch Heinz erzählt mir, es seien mehrere Eventualitäten schon in Aussicht; darunter eine: Kräfteabgabe nach Frankreich, um die ganze Sache vor der Welt zu verschleiern (das heißt, so sage ich, derart hinzustellen, als hätten die Deutschen diese Kräfteabgabe verlangt); dann scheint auch ein Stoß in unserem Bereich (Brentonico, Zugna, Pasubio) in Betracht zu kommen.

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