Auf den Spuren der Wahrheit

Tagebucheintrag vom
18.06.1916
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Kaiser
Tagebucheintrag von
Karl Schneller
Erklärung
18.6.1916

Gestern abends meldete das Heeresgruppenkommando, es habe bei der Wahl der Widerstandslinie das Ziel im Auge, möglichst wenig von dem im Angriff erkämpften Terrain aufzugeben. Dies hänge aber vor allem davon ab, ob, wann und in welchem Umfange weitere Abgaben vom Heeresgruppenkommando gefordert werden. Um daher die Widerstandslinie den voraussichtlichen Kräfteverhältnissen anpassen zu können, wird gebeten, über Zeitpunkt und Umfang Mitteilung zu machen. - Hierauf antworten wir heute mittags: „Soweit sich heute überblicken lässt, wird die Heeresgruppe für den russischen Kriegsschauplatz außer einigen weiteren schweren Batterien keine Kräfte mehr, wohl aber anschließend noch mindestens 1 ITD und schwere Artillerie für die Isonzofront abgeben müssen. Weitere Verschiebungen innerhalb der Südwestfront hängen von der Entwicklung der Lage ab, die jedenfalls die Bildung stärkerer Reserven fordert. Damit die zur dauernden Verteidigung bestimmte Linie mit möglichst geringen Kräften und geringem Kräfteverbrauch gehalten werden kann, ist bei ihrer Wahl, wo notwendig, ein Aufgeben erkämpften Bodens nicht zu scheuen." Conrad wollte noch die Mitteilung beifügen, dass beabsichtigt sei, dem Heeresgruppenkommando künftighin wieder den Befehl über die ganze Südwestfront zu übertragen. Es gelingt mir, dies zu verhindern; denn es ist jetzt sehr wichtig, dass sich dieses Kommando vorerst ganz mit der schwierigen Führung der beiden Armeen beschäftigt und nicht wo andershin schaut. - Die heutige Mittagsmeldung macht übrigens einen guten Eindruck. Das III. Korps wurde wieder, namentlich in seiner gegen Osten gerichteten Front, heftig angegriffen, wies aber alle Vorstöße ab; nur über den Ausgang unseres Gegenangriffes am nördlichen Flügel, wo vorgestern und gestern offenbar kein größeres Malheur geschehen ist, fehlen noch Nachrichten. Die Lage auf dem russischen Kriegsschauplatz entwickelt sich anscheinend immer mehr zum Schlechten. Czernowitz musste aufgegeben werden, und die 7. Armee geht hinter den Sereth zurück. Natürlich wird die Wirkung dieser Nachricht auf die öffentliche Meinung der Monarchie niederschmetternd sein; Das Volk hängt an Städtenamen... Es fehlt nur noch Lemberg: Das würden wir kaum ein zweites Mal vertragen, aber so weit ist es noch nicht. Das wüste Gerede und Geschimpfe über die Ursachen der Schlamastik auf dem russischen Kriegsschauplatz dauert fort. Man hört die dümmsten Ansichten: Einmal ist die Überlegenheit der Russen (von der man merkwürdigerweise vorher nichts wusste), das andere Mal unsere Artillerie, ein drittes Mal Munitionsmangel Schuld u.s.w. Nur die wahre Schuld, die einzig und allein in der Führung und vor allem in der obersten Führung und deren Winterschlaf liegt, will niemand eingestehen. Schon ist das Schlagwort geprägt: Was nützen uns Arsiero - Asiago, wenn wir Czernowitz verlieren! Nun, ich werde mich gegen alle Angriffe, jetzt und vor der Geschichte zu wehren wissen!

Nach den diplomatischen Telegrammen ist die englische Offensive in Flandern beschlossen. Allmählich treten die Folgen des Aufgebens unserer Offensive in deutlicheren Umrissen hervor. Heute abends kommt die Meldung des Heeresgruppenkommandos über die zur künftigen Verteidigung gewählte Linie: Zwischen Etsch und Pasubio werden die schon längst aufzugebenden Stellungen der Landesschützen aufgegeben; das ist alles in Ordnung. Nördlich des Posinatales werden die unmittelbaren Begleithöhen nicht einbezogen; da möge noch das 11. AK. auch unter dem Gesichtspunkt entscheiden, dass es auch unter den geänderten Verhältnissen noch gelingen kann, den Pasubio zu nehmen. Die 3. Armee geht natürlich auf die Höhen nördlich der Assaschlucht zurück; weiters verläuft die Verteidigungslinie über den Interrotto zur Cima Dieci. - Nach reiflicher Überlegung muss man unter den jetzigen Verhältnissen sagen: Einverstanden. Vor 8 Uhr noch frage ich an, ob die Befehle für die Durchführung dieser Absichten schon gegeben sind; um 10 Uhr bekomme ich die Antwort: Ja. Gleichwohl enthält der letzte Satz unseres im Allgemeinen zustimmenden Befehles die Weisung: Absichten und deren Durchführung melden.

Die Gesamtlage ist jetzt schwer zu überblicken. Als Kernpunkt scheint mir der hartnäckige Wille Falkenhayns, bei Verdun durchzudringen; ein Wille, an dem anscheinend für diesen Mann Sein oder Nichtsein hängt. Deshalb will er für eine Gegenoffensive auf dem russischen Kriegsschauplatz erst einen „Rahmen" geschaffen haben. Die Kombination ist strategisch zweifellos richtig; es fragt sich nur, ob die Franzosen jetzt, wo entschieden für die Entente ein aufsteigender Ast begonnen hat, überhaupt mürbe zu kriegen sind! Und dann ist auch mit der öffentlichen Meinung, mit den Völkern unserer Monarchie zu rechnen. Zu Czernowitz kann morgen Arsiero - Asiago, übermorgen oder etwas später - (ich will nicht unken) Lemberg kommen. Viel vertragen wir nicht mehr. Man kann aber schwer selbst zu einem Urteil kommen, weil die Lage bei Verdun (ohne deutsche Schlauheit!) für uns eine unbekannte Größe ist. Ein zweifellos unehrliches Spiel spielen die Deutschen mit uns in der italienischen Sache. Auch vom militärischen Standpunkt: Die 4 Divisionen, die oben nichts helfen, hätten vielleicht unten noch die Entscheidung erzwingen können; und wie leicht hätten sie oben durch 2 deutsche, die ungefähr denselben Kampfwert gehabt hätten, ersetzt werden können - Aber genug davon. Die ganze Größe dieses Geschehens ermessen wir alle nicht, die wir mitten drinnen stehen. Vielleicht sinken doch nicht nur die Drahtzieher des jetzigen Krieges, vielleicht sinkt das ganze System zu Grabe, vielleicht ist die Menschheit doch um einen Schritt weitergekommen?

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