Auf den Spuren der Wahrheit

Tagebucheintrag vom
02.09.1914
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Kaiser
Tagebucheintrag von
Karl Schneller
Erklärung
2.9.1914

Nachts kamen Siegesnachrichten von der 4. Armee. – Der Erfolg spricht sich jedoch dort mehr in einer großen Zahl von Gefangenen und erbeuteten Geschützen als in dem Zurückgehen des Feindes aus. Letzterer scheint im Gegenteil immer wieder Stand zu halten! Immerhin lässt sich früh ein Pressecommuniqué über den eigenen Erfolg konstruieren; allerdings muss die sehr ernste Lage bei Lemberg zugegeben werden. Wie ernst diese Lage ist, geht am besten daraus hervor, dass sich Generalmajor Boog um 9 Uhr vorm. beim Chef meldet. – Auch der abgesetzte Oberst Martinek ist gekommen.

            10 Uhr vorm. Pitreich telefoniert: Situation Lemberg unhaltbar. – 11. K.T.D. zurück auf Janów. – Starke feindliche Kolonnen im Vorgehen von Żółkiew auf Rokitno. – Boog telefoniert: Chef im Ganzen mit unserem Antrag einverstanden. Anleitungen für die Trains konnten bereits getroffen werden. –

            11 Uhr vorm. Rückzugsbefehl an die 3. Armee. Ich klopfe diesen Befehl: Angesichts der geänderten Lage am Nordflügel der 3. Armee ist die 3. Armee hinter die Wereszyca zurück zu führen, sofern es mit Rücksicht auf das Vorgehen des Feindes zulässig erscheint. Zugleich wird das 2. Armeekommando angewiesen, mit einer I.T.D. die Übergänge bei Komarów und Nowa Wies zu besetzen. – Giesl scheint sich sehr in militärische Dinge zu mischen. Seine Berichterstattung wird nicht zensuriert. Man vermutet, dass er heute, nachdem er unseren Train auf einer Marschübung sah, dem Ministerium des Äußern telegrafierte, dass wir Vorbereitungen für eine Rückverlegung des Oberkommandos bereits treffen. –

            Nachmittag kommt Szeptycki von Lemberg zurück. Den ganzen Tag soll dort Ruhe geherrscht haben; die Panik der 23. Lw.Div. hatte am 1.9. stattgefunden und zwar ohne jeden Grund; denn das Gerücht vom Anrücken einer starken russischen Kolonne von Żółkiew  gegen Rokitno bestätigte sich nicht. – Man weiss also nicht, was der Feind macht. Gruppiert er sich zu einem neuen Angriff auf die 3. Armee? Geht er in nordwestlicher Richtung gegen die 4. Armee vor? Will er die 3. Armee am südlichen Flügel fassen? Wieder ist die Lage äußerst kritisch! Und das geht nun schon eine Woche in diesem Tempo fort! – Abends telefoniert mir General Boog in italienischer Sprache, dass die 3. Generale der ungarischen (23) Honv.I.T.D. trotz der bestimmten Befehle des Armekommandos ihre Truppe verließen und erst im Bett oder Wirtshaus gefunden wurden. Ein Exempel soll statuiert werden. Auch in Przemyśl befinden sich viele Offiziere der 3. Armee! – Potiorek meldet heute, er sei schlagbereit und werde den Gegner am 3. oder 4. Angreifen. Er bekommt eine wenig aufmunternde Antwort, vom Chef eigenhändig geschrieben, worin viel vom Staatsinteresse die Rede ist und votiert wird, der Angriff sei am günstigsten auf den die Drina überschreitenden Gegner zu führen, so wird diesem Mann schon wieder in die Armee gefallen, wo er doch allein wissen kann, wie es um seine Armeen steht. –

            Abends arbeite ich an einem langen Presse Communiqué, das die vergangenen Ereignisse schildert und in dem Satz gipfelt, dass die Feldzugsentscheidung noch nicht gefallen sei, unsere Armeen aber zuversichtlich weiteren schweren Kämpfen entgegensehen. – Von Moltke keine Antwort; Freytag-Loringhoven trinkt mir abends freundlich zu. Es scheint gewirkt zu haben.

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